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10/11/2004: "Fragen Sie Reich-Ranicki aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung"


Dieser Artikel ist zwar schon etwas älter aber immer wieder gut:

FRAGEN SIE REICH-RANICKI

Elke Steinfeld aus Kiel fragte sich - wie bereits in der Sonntagszeitung vom 18. Januar zu lesen war -, ob sie mir ihren neuen Roman zuschicken dürfe. Er sei bisher von 21 Verlagen aus "unbegreiflichen Gründen" abgelehnt worden. Das Buch umfasse 497 Seiten und sei "sehr spannend".
Ich habe diese Anfrage vorerst nicht beantwortet, sondern die Redaktion gebeten, von den Leserbriefen, die ich täglich erhalte, zwölf ganz oder teilweise abzudrucken. In ihnen werde ich höflich ersucht oder flehentlich beschworen, die literarischen Arbeiten dieser Briefschreiber zu begutachten und möglichst einem passenden Verlag zu empfehlen. Auf keinen dieser Briefe habe ich reagiert, aber jetzt ist es Zeit, Frau Elke Steinfeld zu erklären, warum es mir ganz und gar unmöglich ist, ihren Wunsch zu erfüllen.

Gleich das Wichtigste: Wir leben in einem freien Land. Und zur Freiheit gehört, daß jeder sich den Beruf auswählen kann, der ihm paßt und den er, womöglich ein Leben lang, ausüben möchte. Ich bin seit über einem halben Jahrhundert Literaturkritiker und Literaturredakteur. Und obwohl ich mittlerweile 83 Jahre alt bin und mich doch wohl zur Ruhe setzen könnte, übe ich beide Berufe nach wie vor aus und tue so gut wie alles, was zu diesen Berufen gehört: Ich schreibe Kritiken für das Blatt, in dem ich seit 1973 arbeite, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, und gelegentlich auch für den "Spiegel", ich redigiere eine allwöchentlich erscheinende Rubrik (die "Frankfurter Anthologie"), ich verfasse Bücher, und ich gebe verschiedene Sammelbände heraus, ab und zu halte ich Vorträge, erteile Interviews und trete im Fernsehen auf. Daß ich auch noch regelmäßig für unsere Sonntagszeitung schreibe, sollte nicht unerwähnt bleiben.

Vor allem aber: Ich bin gerade jetzt mit einer enormen Arbeit beschäftigt, die viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als ich es mir je gedacht hatte: Ich gebe im Auftrag mehrerer Verlage eine im Frankfurter Insel Verlag publizierte Bibliothek des Kanons der deutschen Literatur heraus. Zwei Teile dieser Bibliothek sind bereits erschienen: Der erste enthält in zwanzig Bänden 20 Romane von 17 Autoren (von Goethe bis Thomas Bernhard) und der zweite in zehn Bänden 180 Erzählungen von 90 Autoren (von Goethe bis Botho Strauß und Christoph Ransmayr). Der dritte Teil wird noch im Spätfrühjahr vorliegen und in sechs Bänden 41 Dramen von 21 Autoren bieten - von Lessing bis Thomas Bernhard und Heiner Müller. Es folgen dann noch zwei Teile - mit Lyrik und mit Essayistischem. Insgesamt wird es die größte Sammlung deutscher Literatur sein, die es je gegeben hat.

Wozu diese lange Aufzählung? Will ich mich etwa rühmen? Aber ja doch, genau das will ich. Denn - so lehrt uns Lessing - "seines Fleißes darf sich jedermann rühmen". Was immer man mir im Laufe der Jahre und Jahrzehnte vorgeworfen hat, Faulheit gehörte nie dazu. Und an das Gebot der Bibel, sechs Tage zu arbeiten, am siebenten aber zu ruhen, halte ich mich nicht. Warum das alles, werde ich denn von jemandem gezwungen? Nein, natürlich nicht, wir leben ja in einem freien Land. Ich arbeite sehr viel nur aus einem einzigen Grund: Weil mir die Arbeit Spaß bereitet. Genügt das nicht?

Daraus geht schon hervor, warum ich keinerlei Romane, Gedichte, Dramen, Essays oder Tagebücher beurteilen kann. Ich muß meine Arbeit tun und darf mich nicht beirren oder ablenken lassen. Ich weiß sehr wohl, daß ich viele meiner Leser enttäusche. Sie wenden sich vertrauensvoll an mich, ich aber schicke das mir zugesandte Manuskript oder vielleicht auch ein Buch kommentarlos zurück. Das wird sich jetzt ändern: Ich werde die mir zugesandten Arbeiten auch dann nicht mehr zurückschicken, wenn Rückporto und ein Umschlag beigelegt sind. Ich kann nicht anders, ich bitte, mir nicht zu grollen.
Wenn ich jenen, die meine Hilfe brauchen, diese verweigere, so verbirgt sich dahinter letztlich ein Grund, den man mit einem Wort bezeichnen kann. Es ist Selbstverteidigung. Ich bitte meine Leser um Verständnis und Nachsicht.


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